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Kategorie: Geistiges Eigentum & Wettbewerb Unternehmen + Steuern
| 10:50 Uhr

BVerfG: Meinungsfreiheit im Zusammenhang mit der Beurteilung von Staatsschutzdelikten


Die Beschwerdeführerin wendet sich mit ihrer Verfassungsbeschwerde gegen 
ihre strafgerichtliche Verurteilung zu einer Geldstrafe wegen Beihilfe
zur Verunglimpfung des Staates (§ 90a Abs. 1 StGB). Gegenstand des
Strafverfahrens war ein Flugblatt, für das die Beschwerdeführerin als
Vorstandsmitglied eines NPD-Kreisverbandes nach außen die
presserechtliche Verantwortung übernommen hatte. Das Flugblatt war nach
der Premiere des Theaterstücks „Georg Elser - allein gegen Hitler“ von
unbekannt gebliebenen Personen verteilt worden. Unter der Überschrift
„Georg Elser - Held oder Mörder?“ verhält sich der Text in den ersten
beiden Absätzen zur Person des „militanten Kommunisten“ Georg Elser und
zu dessen gegen Hitler gerichteten Anschlag im Münchener
Bürgerbräukeller 1939, der „acht unschuldige Menschen in den Tod“
gerissen habe. Weiter heißt es im Text:
     „Wie sehr ist dieses BRD-System schon verkommen, daß es für seinen
‚K(r)ampf gegen Rechts’ (und damit alles Deutsche!) eines solchen
Vorbildes bedarf? Ihn in Filmen und Theaterstücken bejubelt,
Schüler zwingt, ihn zu verehren ... ? Werden bald die
kommunistischen RAF-Terroristen ebenso geehrt und ihre Opfer
verhöhnt? Mörder unschuldiger Menschen können keine Vorbilder sein!“
Die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat die 
strafgerichtlichen Entscheidungen aufgehoben, weil sie die
Beschwerdeführerin in ihrer grundrechtlich gewährleisteten
Meinungsfreiheit verletzen und die Sache zur erneuten Entscheidung an
das Amtsgericht zurückverwiesen.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde: 
Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Der überwiegend 
Meinungsäußerungen enthaltende Text des streitgegenständlichen
Flugblatts ist vom Schutzbereich der Meinungsfreiheit umfasst. Diese ist
zwar nicht vorbehaltlos gewährt, sondern findet ihre Grenze unter
anderem in den allgemeinen Gesetzen. Die angegriffenen Entscheidungen
werden jedoch bei der Anwendung der hier einschlägigen Strafnorm der
Bedeutung der Meinungsfreiheit nicht gerecht, weil sie verkannt haben,
dass durch die Verteilung des Flugblattes die Schwelle zur Verletzung
des durch § 90a StGB geschützten Rechtsguts noch nicht überschritten
ist.
Denn bei Auslegung und Anwendung einer die Meinungsfreiheit 
einschränkenden Vorschrift im Einzelfall gilt, um der wertsetzenden
Bedeutung des Grundrechts Rechnung zu tragen, dass nicht der Inhalt
einer Meinung als solcher verboten werden darf, sondern nur die Art und
Weise der Kommunikation, wenn sie die Schwelle zu einer sich
abzeichnenden Rechtsgutverletzung überschreitet. Da anders als dem
einzelnen Staatsbürger dem Staat kein grundrechtlich gewährleisteter
Ehrenschutz zukommt, ist im Falle des § 90a StGB die Schwelle zur
Rechtsgutverletzung erst dann überschritten, wenn aufgrund der konkreten
Art und Weise der Meinungsäußerung der Staat dermaßen verunglimpft wird,
dass dies zumindest mittelbar geeignet erscheint, den Bestand der
Bundesrepublik Deutschland, die Funktionsfähigkeit seiner staatlichen
Einrichtungen oder die Friedlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland
zu gefährden. Dies ist vorliegend nicht der Fall. Das streitige
Flugblatt setzt sich anlässlich der Aufführung des Theaterstücks mit dem
zugrunde liegenden historischen Geschehen um Georg Elser auseinander und
setzt im Rahmen des öffentlichen Meinungskampfes der unterstellten
anderen Wertung des „BRD-Systems“ eine eigene Wertung entgegen.
Kernaussage des Flugblattes ist bei einer kontextbezogenen
objektivierenden Betrachtung der Satz „Mörder unschuldiger Menschen
können keine Vorbilder sein!“. Die Darstellung einer Verkommenheit des
„BRD-Systems“ ist hingegen weder inhaltlich noch dem Umfang nach
thematischer Schwerpunkt des Flugblattes. Bezugspunkt ist auch nicht
etwa die verfassungsmäßige Ordnung, sondern mit dem „K(r)ampf gegen
Rechts“ lediglich ein politischer Einzelaspekt. Die Äußerungen
verbleiben dabei im Bereich bloßer Polemik, so dass eine auch nur
mittelbare Eignung des Flugblattes, den Bestand des Staates und seiner
Einrichtungen oder die Friedlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland
zu gefährden, ausgeschlossen erscheint.
 Quelle: Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts vom 20.01.2012